11. KAPITEL
Kalifornien - 1969 und 1970
»Hast du einen Moment Zeit für mich, Carl?« Die Mathematikstunde war zu Ende, und Carl Rice packte gerade seine Bücher zusammen. Vanessa Wingates Stimme ließ ihn erstarren, als hätte Captain Kirk ihn mit seinem Phaser paralysiert. »Du bist doch ziemlich gut in Mathe, stimmt's?«
Carl drehte sich zu der attraktiven Blondine herum und kämpfte dagegen an, auf den Boden zu starren. Sein Versuch, gelassen mit den Schultern zu zucken, wirkte eher, als litte er an einem Krampf.
»Geht so.«
»Mr. Goody hat mich wieder mal abgehängt. Ich frage mich, ob du mir vielleicht helfen könntest. Das Zeug, das wir heute durchgenommen haben, kommt sicher bei der Abschlussarbeit, und ich habe keinen blassen Schimmer davon.«
»Okay. Ich habe jetzt noch Unterricht, aber ich bin um drei in der Bibliothek.«
»Großartig.« Vanessa schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Sie verabredeten sich am Tresen der Rezeption, und Vanessa verschwand mit einem fröhlichen: »Bis dann!«
Die St. Martins Preparatory School lag auf einem großzügigen, ländlichen Campus ein paar Meilen vom Pazifischen Ozean entfernt. Die Schule war 1889 gegründet worden. Das Efeu auf den Gebäuden sah aus, als wäre es niemals beschnitten worden. Obwohl Carl Rice und Vanessa Wingate in dieselbe Klasse gingen, hätten sie auf verschiedenen Kontinenten leben können
Vanessa war reich, wunderschön und die Hauptfigur in Carls glühendsten sexuellen Phantasien.
Sie gehörte zu einer Clique, welche die neuesten und schnellsten Wagen fuhr, die coolste Kleidung trug und die neuesten Marotten drauf hatte, bevor der Rest von Amerika auch nur von ihrer Existenz erfuhr. Carl war Stipendiat, Einzelgänger und kaufte seine Kleidung bei Woolworth von der Stange. Zwei Stunden mit Vanessa verbringen zu dürfen, selbst wenn sie nur Mathe übten, war die Erhörung seiner innigsten Gebete.
Carl fiel es schwer, sich im Unterricht zu konzentrieren. Er war eine Viertelstunde zu früh in der Bibliothek. Sein Puls beschleunigte sich jedes Mal, wenn die Tür aufging. Nach einigen Minuten quälenden Wartens gestand Carl sich ein, dass er ein Narr gewesen war. Vanessa würde nicht auftauchen. Sie hatte viele Freunde und viel zu tun. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen Spaß versäumte, um mit ihm zu büffeln. Er wollte seine Bücher schon wieder einsammeln, als er sie am Empfangstisch stehen sah. Sie winkte ihm zu.
Die Schulbibliothek war ein großes Steingebäude, das mit der Spende eines Eisenbahnbarons Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden war. Carl führte Vanessa nach unten zu einem Tisch auf der Rückseite des Untergeschosses, wo er beinahe jeden Abend an seinen Hausaufgaben saß. Hier war es zwar etwas dämmrig, aber Carl mochte den Platz, weil sich nur wenige Studenten hierher verirrten.
Es überraschte Carl, dass Vanessa tatsächlich Hilfe in Differentialrechnung wollte. Er hatte sie nie für eine sehr fleißige Schülerin gehalten. Andererseits wusste er nicht viel über sie. Und nun konnte er erfreut feststellen, dass sie seine Erklärungen problemlos verstand, jedenfalls nachdem er einige grundlegende Missverständnisse ausgeräumt hatte. Sie waren gerade so richtig in den Stoff vertieft, als ein langer Schatten über die Tischplatte fiel. Carl blickte hoch. Sandy Rhodes und Mike Manchester beugten sich über sie. Mike und Sandy gehörten zum Footballteam. Beide Jungen waren gut in Form. Carl hatte von irgend-wem gehört, dass Vanessa und Sandy miteinander gingen.
»He, Vanessa, was liegt an? Wollten wir nicht ausgehen?«
Sandy schien sich zu ärgern, dass Vanessa für die Schule arbeitete.
»Ich wollte es dir sagen, aber ich konnte dich nicht finden.«
»Jetzt bin ich ja da. Gehen wir!«
Vanessa lächelte entschuldigend. »Ich kann nicht. Ich muss das wirklich lernen.«
Sandy nahm von Carl keinerlei Notiz und schien auch Vanessas Ablehnung nicht akzeptieren zu wollen.
»Komm schon! Es ist Freitagabend. Alle warten auf uns.«
Vanessas Lächeln gefror. »Ich lerne, Sandy. Ich gehe heute nicht aus.«
»Blödsinn.« Sandy schlug ihr Buch zu und packte grob ihren Oberarm.
Carls Vater hatte Evelyn Rice verlassen, als Carl fünf Jahre alt war. Er wurde immer noch von Alpträumen mit den Wutausbrüchen seines Vaters und den Schmerzensschreien seiner Mutter heimgesucht. Der Anblick des geschwollenen Gesichts seiner Mutter hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt.
»Lass Vanessa los!« sagte Carl. Er klang etwas schüchtern, was angesichts der Umstände verständlich war. Carl war zwar drahtig und topfit, aber die beiden Footballspieler waren jeder einen halben Kopf größer als er.
Sandy ließ Vanessas Arm nicht los, sondern warf Carl einen Blick zu, mit dem er zweifellos auch Hundekot unter seinem Schuh betrachtet hätte.
»Steck deine Nase wieder in dein Buch, sonst breche ich sie dir!« Als Sandy sich wieder auf Vanessa konzentrierte, verpasste Carl ihm einen Faustschlag auf den Solarplexus. Dem Footballspieler blieb die Luft weg. Dann packte Carl den Schlips, den alle Schüler von St. Martins tragen mussten, und riss Sandys Kopf so heftig herunter, dass dessen Kinn auf den Tisch krachte. Ohnmächtig sackte der Junge zusammen.
Mike Manchester war vor Überraschung zunächst wie gelähmt, aber das Geräusch, mit dem das Kinn seines Freundes gegen den Tisch krachte, riss ihn aus seiner Trance. Er holte zu einem mächtigen Schwinger aus. Carl stieß sein dickes Mathematikbuch vor. Das Geräusch, mit dem Mikes Knöchel brach, klang wie ein Schuss. Als er schmerzerfüllt zurückzuckte, schwang Carl sein Buch wie einen Baseballschläger und erwischte Mike am Hinterkopf. Der Schlag zwang ihn in die Knie. Carl trat hinter ihn und schnürte Mike mit einem Würgegriff die Luft ab.
»Ich will nicht mit euch kämpfen. Sind wir jetzt quitt?« fragte Carl den Jungen, der sich heftig wehrte.
Mike versuchte, Carls Arm wegzudrücken, doch Carl verstärkte seinen Griff. Mittlerweile war Sandy wieder zu sich gekommen und rappelte sich mühsam hoch. Carl ließ den kraftlosen Mike zu Boden sinken und verpasste Sandy einen harten Fußtritt gegen das Kinn. Sandy brach neben seinem Freund zusammen.
»Heilige Scheiße!« Vanessa sprang auf. »Du musst hier weg! Die werden stinksauer sein, wenn sie wieder zu sich kommen.«
»Ich hab keinen Wagen«, gab Carl zu. Es war ihm peinlich, Vanessa zu erzählen, dass seine Mutter ihn von der Schule abholte.
»Ich habe meinen Wagen dabei. Gehen wir!« befahl sie, während sie bereits ihre Schulbücher einsammelte. Carl zögerte, und Mike Manchester stöhnte. Vanessa packte Carl am Arm. »Mach schon!« »Wird Sandy nicht genervt sein, weil du mir hilfst?«
»Sandy ist ein Schwein. Wir sind erst dreimal ausgegangen,
und er tut schon so, als gehörte ich ihm. Ich bin froh, dass du es
ihm gezeigt hast.«
Drei Minuten später saß Carl auf dem Beifahrersitz von Vanessas Corvette, die über die Küstenstraße raste.
»Das eben war ziemlich beeindruckend«, sagte Vanessa.
»Wo hast du so zu kämpfen gelernt?«
Carl fühlte sich nicht besonders wohl wegen der Prügel, die er ausgeteilt hatte, aber er konnte es einfach nicht ertragen, wenn ein Mann einer Frau Schmerz zufügte. So ähnlich hatte auch sein Vater seine Mutter misshandelt.
»Ich habe von klein auf Karate gelernt. Ich trainiere jeden Tag nach der Schule in einem Dojo.«
Vanessa sah ihn von der Seite an. Das Verdeck der Corvette war offen. Der Fahrtwind wehte durch ihr langes blondes Haar.
»In dir steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht, Carl Rice«, sagte sie, bevor sie wieder auf die Straße sah.
Carl errötete. »Wohin fahren wir?« fragte er, um seine Verlegenheit zu überspielen.
»Zu mir nach Hause.«
Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Carl warf verstohlene Seitenblicke auf Vanessa, während er so tat, als betrachte er den Ozean. Sie war so wunderschön, und er konnte nicht glauben, dass er hier neben ihr in diesem beeindruckenden Wagen saß.
»Du hast ein Stipendium, stimmt's?« fragte Vanessa.
Carl errötete wieder und nickte. Evelyn Rice war hochintelligent, aber ihr Mann hatte ihr nie erlaubt, zu arbeiten oder ihr Studium zu beenden. Als Carls Vater aus ihrem Leben verschwand, hatte seine Mutter sich in einer Volkshochschule eingeschrieben. Sie hatte ihren Abschluss mit der Bestnote in Buchführung absolviert und war als Empfangsdame in der örtlichen Niederlassung einer großen Steuerberatung eingestellt worden. Nachdem sie schließlich sogar ihr Diplom gemacht hatte, stieg sie bis zur Büromanagerin auf. Einer der Partner der Firma war ein Ehemaliger von St. Martins, der Carl dort zu einem Stipendium verholfen hatte.
»Ich beneide dich«, erklärte Vanessa.
»Warum sollte mich jemand beneiden?« erwiderte er ungläubig. Fast alle Studenten auf St. Martins kamen aus wohlhabenden Familien. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, warum eine Frau wie Vanessa sich für jemanden wie ihn interessieren, geschweige denn, warum sie ihn beneiden sollte.
»Niemand schenkt dir etwas«, antwortete sie. »Du erreichst das, was du hast, mit deinem Verstand und deinem Ehrgeiz.«
»Das musste ich nur, weil ich arm bin, Vanessa. Glaube mir, das ist nicht romantisch.«
»Das ist das Leben mit meinem Vater auch nicht.«
»Wenigstens hast du einen Vater. Meiner hat uns verlassen, als ich fünf war.«
»Aber er hat deine Mutter nicht ermordet, oder?«
»Was?« Carl hielt das für einen Witz. »Was redest du da?«
»Meine Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich dreizehn war. Ich bin sicher, dass es kein Unfall war.«
»Hast du das der Polizei erzählt?«
»Die haben mir nicht geglaubt. Und die Versicherungsdetektive auch nicht. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn ich hatte keine Beweise. Ich weiß einfach nur, wie dieser Mistkerl vorgeht. Er glaubt, er steht über dem Gesetz. Auf jeden Fall kennt er Leute, die einen Mord wie einen Unfall aussehen lassen können.« Carl wusste nicht, was er darauf sagen sollte. »Hast du das dem FBI erzählt?«
Vanessa lachte höhnisch auf. »Ich hatte ihr Büro gerade zehn Minuten verlassen, als jemand meinen Vater anrief. Der General hat mich in die Bibliothek unseres Hauses bestellt und mir gedroht, dass er mich in ein Irrenhaus schaffen würde, wenn ich nicht aufhörte, solche böswilligen Verleumdungen zu verbreiten. Er sagte, er würde mich unter Beruhigungsmittel setzen und in eine Zwangsjacke stecken und ich würde den Rest meines Lebens in der Gummizelle verbringen.«
»Dein Vater ist General?«
Vanessa nickte.
»Damit käme er aber doch ganz sicher nicht durch, ich meine, wenn er dich ohne Grund einsperren ließe?«
»Du hast keine Ahnung, wie mächtig mein Vater ist. Also habe ich aufgegeben, und er hat mich nicht weiter beachtet. Er ist ohnehin nicht viel zu Hause. Die meiste Zeit verbringt er in Washington, und ich kann hier tun und lassen, was ich will. Solange ich ihn nicht in Verlegenheit bringe oder ihn verärgere.«
Vanessa bog von der Hauptstraße ab und blieb vor einem hohen schmiedeeisernen Tor stehen. Sie tippte einen Code in eine Tastatur, und die Flügel schwangen auf. Hinter dem Tor verlief der Weg durch eine von Bäumen gesäumte Wiese bis zu einem Hügel. Von dort aus hatte man einen wundervollen Blick auf den Ozean und die riesige Villa im Spanischen Stil mit einem roten Ziegeldach. Carl war einem solchen Anwesen noch nie so nahe gekommen. Das Haus war so weiß wie Schnee und größer als sein Apartmenthaus. Die Balkone vor den Fenstern im ersten und zweiten Stock waren mit frischen Blumen geschmückt. Rechts vom Haus befand sich ein Stall. Carl hatte oft davon geträumt, wie es wäre, reich zu sein, aber so etwas hätte er sich niemals ausmalen können
»Hier lebst du?« fragte er fast ehrfürchtig. »Das ist dein Haus?«
»Süßes Heim, Glück allein«, sang Vanessa, als sie auf eine kreisförmige Zufahrt einbog und vor einer riesigen, geschnitzten Tür bremste, die von einem Patio beschattet wurde. Als sie anhielt, schwang die Tür auf, und ein Mann mit einer weißen Jacke und einer schwarzen Hose begrüßte sie. Vanessa warf ihm die Wagenschlüssel zu.
»Ich bleibe heute Abend hier, Enrique«, erklärte sie und führte Carl ins Haus. Die Tür schloss sich und schnitt das mächtige Dröhnen des Motors der Corvette ab, als Enrique den Wagen in die Garage chauffierte.
»Darf ich mal telefonieren? Meine Mom macht sich bestimmt Sorgen, wenn ich nicht anrufe.«
In der riesigen Eingangshalle stand ein Telefon auf einem von Intarsien geschmückten Tischchen. Carl rief im Büro seiner Mutter an und erwischte sie, als sie im Gehen begriffen war. Vanessa hörte zu, wie er erklärte, dass er im Haus einer Freundin war, die ihn später nach Hause fahren würde. Sie tippte ihm auf den Arm. Er bat seine Mutter, einen Moment zu warten, und brach in Schweiß aus, als Vanessa ihm etwas ins Ohr flüsterte.
»Ich ... Ich bin eingeladen worden, hier zu übernachten. Ist das für dich in Ordnung?«
Nachdem er sich ein paar ernste Worte über Benehmen und Pünktlichkeit angehört hatte, legte Carl auf.
»Bleibst du?«
»Mom ist begeistert, dass ich mich endlich mit jemanden aus St. Martins angefreundet habe.«
»Ich wünschte, mein Vater würde sich einen Deut darum scheren, mit wem ich zu tun habe.« Carl sah sich in der Eingangshalle um. Sie war mit rötlichen Fliesen ausgelegt. Die Hauptattraktion waren jedoch der gewaltige Kristalllüster und die geschwungene Marmortreppe.
»Es ist noch zu früh zum Dinner«, erklärte Vanessa. »Hast du Lust zu schwimmen?«
»Ich habe keine Badehose dabei.«
Vanessa warf ihm einen anzüglichen Blick zu. »Mach dir darüber keine Gedanken.«
Als Carl errötete, lachte sie. »Wir haben Badehosen im Poolhaus. Lass deine Schultasche einfach hier und komm mit.«
Sie ging voran durch ein großes, sonnendurchflutetes Wohnzimmer zu mehreren großen, gläsernen Flügeltüren. Vanessa öffnete eine, und Carl trat auf eine geflieste Terrasse hinaus, die an einen Rasen grenzte, der sie von einem fünfundzwanzig Meter Becken trennte. Auf der anderen Seite des Beckens befanden sich zwei Umkleidekabinen. Vanessa zeigte ihm die für Männer und verschwand in der anderen. Zehn Minuten später kam Carl in schwarzen Boxershorts heraus. Vanessa räkelte sich auf einer Liege. Sie trug einen winzigen, gelben Bikini. Beim Anblick ihres schlanken, gebräunten Körpers verschlug es Carl fast den Atem. Ihr Bauch war flach, leicht muskulös, und ihre langen Beine waren wundervoll glatt. Er fühlte, wie er eine Erektion bekam, und kämpfte mit aller Macht dagegen an. Vanessa ließ sich nicht anmerken, ob sie seinen Zustand bemerkt hatte. Sie stand auf und nahm ein T-Shirt und ein Sweatshirt für Carl von einer Liege, zwei große Flanellhandtücher und ein großes Strandtuch.
»Ab ins Meer!« Sie ging zum anderen Ende des Rasens und führte ihn über eine verwitterte Holztreppe von den zerklüfteten Klippen hinab zu einem schmalen Strand hundert Meter tiefer. Es herrschte Flut, so dass große Wellen an den Strand brandeten. Vanessa breitete das Badetuch auf dem Sand aus, warf alles darauf, was sie in der Hand hatte, und rannte ins Wasser. Dann stürzte sie sich kopfüber in eine Welle und kraulte routiniert in die Brandung. Carl tauchte in eine Welle und machte einige kräftige Schwimmzüge, um sich aufzuwärmen. Als er auf der anderen Seite der Welle herauskam, war von Vanessa nichts mehr zu sehen. Er drehte sich suchend um, während er mit einer plötzlichen Panik kämpfte. Plötzlich tauchte Vanessa graziös wie ein Delphin unmittelbar vor ihm aus dem Wasser auf, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Ihr Kuss überraschte Carl, aber er überwand seinen Schreck sehr schnell, als sie ihn noch einmal küsste.
Carl hatte Vanessa begehrt, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie ihn auch wollte, aber wie sonst sollte er erklären, dass sie sich an ihn klammerte, ihre langen Beine um seine Taille schlang und ihre wunderschönen Brüste an seine Brust drückte?
Vanessa unterbrach den Kuss und tauchte ab. Carl blieb benommen vor Begehren zurück. Als sie wieder auftauchte, war sie fast schon am Ufer. Carl schwamm ihr nach. Als er aus der Brandung stieg, trug sie bereits ihr T-Shirt.
»Ich friere«, sagte sie und warf ihm Handtuch und Sweatshirt zu. »Gehen wir hinein!«
Carl folgte ihr. Er fürchtete sich davor zu sprechen. Der Anblick, wie sich Vanessas Po unter dem T-Shirt rhythmisch bewegte, als sie die Treppen hinaufging, überwältigte ihn beinahe. Er konnte vor Verlangen kaum noch klar denken. Er riss den Blick von Vanessa los, weil er Angst hatte, zu stürzen, wenn er sich nicht auf die schmalen Stufen konzentrierte.
Sie gingen ins Haus. Vanessa führte ihn die geschwungene Treppe hinauf in den zweiten Stock.
»Das ist dein Zimmer«, sagte sie und öffnete die Tür zu einem Gästezimmer. Carl ging hinein, und Vanessa folgte ihm. Der Raum war mit einer Kommode, zwei Couchtischen, einer Bodenlampe und einem breiten Bett möbliert
»Wir essen frühestens in einer Stunde.« Vanessa schloss die Tür und streifte sich das T-Shirt über den Kopf. »Was fangen wir bis dahin nur an?«
Carl wachte lange vor Tagesanbruch auf. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und um sich zu vergewissern, dass er gestern nicht geträumt hatte. Der Beweis dafür lag neben ihm; nackt, mit zerwühltem Haar und so schön, dass es fast weh tat. Carl kroch aus dem Bett und streifte sich die Badehose und das Sweatshirt über, die Vanessa ihm geliehen hatte. Während Vanessa weiter schlief, ging Carl über die Treppe der steilen Klippe hinab zum Strand. Er brauchte Zeit, um zu sortieren, was da zwischen ihm und Vanessa passiert war. Dafür benötigte er einen klaren Kopf.
In wenigen Stunden würde die Sonne Kaliforniens alles in ihr glühendes Licht tauchen, aber um diese frühe Zeit ging sie gerade erst auf. Die Klippen warfen ihren kühlenden Schatten auf den Strand. Carl dehnte sich zwanzig Minuten, bevor er seine Katas übte, Karateübungen, die eher an einen Tanz erinnerten. Jede Kata war ein ritueller Kampf gegen einen imaginären Gegner. Die einzelnen Bewegungen einer Kata mussten in einer besonderen Reihenfolge ausgeführt werden. Carl mochte diese Übungen fast noch lieber als einen echten Kampf. Für ihn waren sie mehr als eine Übung. Sie waren ein Ritual, das eine gewisse formale Sicherheit in sein Leben brachte, das von seiner Geburt an durch Unsicherheiten geprägt war.
Carl bewegte sich knapp außerhalb der Wellen über den Sand. Jede Kata war komplexer als die davor, und er absolvierte sie dreimal, wobei er die Geschwindigkeit allmählich steigerte. In Zeitlupe und bei halber Geschwindigkeit flössen die Katas sanft dahin, und ihre Bewegungen gingen elegant ineinander über. In voller Geschwindigkeit jedoch schienen Carls Arme und Beine zu verschwimmen, doch er selbst sah jeden Schlag, jeden Tritt und jeden Block ganz deutlich vor sich. Als er übte, verblassten das Meer, der Strand und die aufgehende Sonne, bis nur noch der Schlag existierte, den er gerade ausführte.
Carl schwitzte am ganzen Körper, als er seine letzte Kata absolviert hatte und sich langsam abkühlte. Er hatte seine Dehnübungen fast beendet, als er jemanden die Treppe zum Strand hinunterkommen sah. Die Sonne war mittlerweile über den Rand der Klippe gestiegen. Carl beschattete die Augen mit der Hand. Die Person war ein markanter, kräftiger Mann in T-Shirt und Shorts. Er trug sein schwarzes, graumeliertes Haar in einem militärischen Kurzhaarschnitt.
»Ich habe Sie seit zwanzig Minuten beobachtet«, begrüßte ihn der Mann. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Ich habe Sie gar nicht bemerkt«, antwortete Carl wahrheitsgemäß. Die Katas nahmen immer seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Sie sind sehr gut«, meinte der Mann. »Wie lange lernen Sie das schon?«
»Ich habe mit acht angefangen.«
»Dann müssen Sie jetzt schon den schwarzen Gürtel haben.«
Carl nickte verlegen. »Diese Gürtel haben nicht viel zu bedeuten.« Er wollte nicht, dass der Mann ihn für einen Angeber hielt. »Jeder kann einen schwarzen Gürtel erreichen, wenn er hart genug trainiert.«
»Ich bin Morris Wingate, Vanessas Vater.« Der General reichte ihm die Hand.
Carl musste sich zwingen, sie zu ergreifen. Die Gemütsruhe, die ihm seine Übungen geschenkt hatten, wich augenblicklich der Scham darüber, dass er mit Wingates Tochter in Wingates Haus geschlafen hatte. Und einer diffusen Furcht, weil Vanessa ihm erzählt hatte, ihr Vater sei ein kaltblütiger Mörder.
»Und Sie sind ...?« fragte der General
Carl schaffte es, dass seine Stimme nicht zitterte, als er Wingate seinen Namen nannte.
»Sie sind ein Freund von Vanessa?«
»Wir sind Klassenkameraden. Ich ... ich helfe ihr bei der Differentialrechnung.«
»Wirklich? Ein Akademiker und hingebungsvoller Karateschüler. Nicht der übliche Männertyp meiner Tochter. Sie haben hier nach dem Unterricht übernachtet?«
»Ja, Sir. Es war schon ziemlich spät.« Carls Magen brannte. Hatte Wingate einen Blick ins Gästezimmer geworfen und seine nackte Tochter sowie Carls unordentlich verstreute Kleidung gesehen?
»Ich bin selbst ebenfalls erst gegen zwei Uhr heute früh nach Hause gekommen. Ich finde, dass ein wenig Bewegung den Kreislauf weit besser in Gang bringt als eine Tasse Kaffee. Haben Sie Lust, ein Stück mit mir zu laufen?«
Carl konnte sich nicht gut weigern, also nickte er nur. Der ältere Mann schlug ein zügiges Tempo an, das Carl problemlos mithalten konnte. Der Strand schien sich endlos vor ihnen zu erstrecken, und Carl fragte sich, wie weit Wingate wohl laufen würde. Letztendlich spielte das keine Rolle. Weit vor ihnen hatte ein Baum mit einem dicken, knorrigen Stamm seine Wurzeln hoch oben in die blanke Felswand der Klippe gegraben. Er neigte sich gefährlich zum Meer hin, aber vermutlich trotzte er schon sehr lange der Schwerkraft. Carl fixierte seinen Blick auf den Baum und lief locker über den Sand.
»Wie steht es denn um Vanessas Mathematikkenntnisse?« erkundigte sich der General schließlich, nachdem sie eine Weile schweigend gejoggt waren.
Carl wusste nicht genau, ob Wingate seine Frage sarkastisch gemeint hatte, also antwortete er gerade heraus.
»Sie hat eine sehr rasche Auffassungsgabe.« »Vanessa ist klug, aber sie konzentriert sich leider nicht ausreichend auf die Schule. Ich wünschte, ihre Noten würden ihren Intelligenzquotienten widerspiegeln.«
Diese Vertraulichkeit war Carl unangenehm. Er hätte nicht gewollt, dass seine Mutter seine Unzulänglichkeiten mit seinen Freunden diskutierte.
»Der Name Rice sagt mir nichts. Leben Sie hier in der Nähe, Carl?«
»Nein.«
»Wo dann?«
»San Diego.« Carl beschloss, den Fragen des Generals zuvorzukommen. »Ich habe ein Stipendium.«
»Das klingt, als wollten Sie sich entschuldigen.«
»So meinte ich das nicht«, erwiderte Carl etwas zu schnell.
»Gut. Dazu haben Sie auch keinen Grund. Es freut mich sehr, dass Vanessa einen Freund gefunden hat, der nicht alles im Leben auf einem Silbertablett serviert bekommt. St. Martins ist eine exzellente Schule. Vanessa würde sie sonst nicht besuchen, aber viele Schüler wurden von ihren Eltern einfach nur dort hinein gekauft. Carl, Sie sollten stolz darauf sein, dass Sie wegen Ihrer Leistungen dort aufgenommen worden sind.«
Die Worte des Generals überraschten Carl. Das klang so gar nicht wie der Unmensch, den Vanessa ihm geschildert hatte.
Wingate zog nach etwa einer Meile das Tempo an, aber Carl hatte keinerlei Schwierigkeiten mitzuhalten. Nach zwei Meilen blockierte ein steinerner Landungssteg den Strand, und der General drehte um. Als sie noch eine halbe Meile vor sich hatten, sprintete Wingate los. Carl hätte den älteren Mann mit Leichtigkeit abhängen können, aber er wollte kein Rennen laufen. Er spürte, dass dies eine Art Test war, und passte sein Tempo einfach nur dem des Generals an. Sie waren noch zweihundert Meter von der Treppe entfernt, als Carl einen Mann in Jeans und einem karierten Hemd sah, der oben am Rand der Klippe spazieren ging. Die Sonne blendete Carl, so dass er den Blick abwenden musste, aber einen Moment lang hatte der Körper des Mannes die Sonne verdeckt, und Carl glaubte, dass der Mann eine automatische Waffe in den Händen gehalten hatte.
Als sie die Treppe erreichten, keuchte der General, während Carl nach wie vor ruhig atmete.
Wingate beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. »Sie sind sehr gut in Form, Carl.«
»Ich trainiere mehrere Stunden am Tag. Laufen gehört auch dazu.«
»Laufen Sie in der Leichtathletikmannschaft von St. Martins?« »Nein.«
»Warum nicht?«
Carl zuckte mit den Schultern. »Mein Unterricht und mein Karate füllen mich ziemlich aus. Ich habe nicht viel freie Zeit.«
»Was machen Sie nächstes Jahr?«
»Ich möchte gern auf das College gehen.«
»Sie haben sicherlich ausgezeichnete Noten.«
»Ich bin ganz zufrieden.«
»Wo bewerben Sie sich?«
»An der Universität von Kalifornien und an einigen anderen. Dartmouth wäre meine erste Wahl, aber das hängt von dem Stipendium ab. Wenn es sein muss, arbeite ich auch ein oder zwei Jahre.«
Wingate richtete sich auf. Er atmete wieder normal. »Gehen wir hinauf! Vanessa ist bestimmt schon wach.«
Carl fühlte sich zu dem General hingezogen. Würde Vanessa ihn fallenlassen, wenn sie glaubte, dass er ihren Vater mochte? Er hoffte, dass sie noch schlief und ihn nicht zusammen mit Wingate sah, aber diese Hoffnung wurde enttäuscht. Sie saß in Tennisshorts und einem hellgrünen, kurzärmeligen Hemd auf der Terrasse, aß ein Croissant und trank Kaffee.
»Sieh an - macht Ihr auf Männerfreundschaft?« fragte sie, als die beiden näher kamen.
»Ich habe Carl gebeten, mit mir zu laufen.« Wingate ignorierte die sarkastische Bemerkung seiner Tochter. »Er hat mir erzählt, dass er dir bei den Hausaufgaben hilft.«
Vanessa starrte Carl so lange an, dass er nervös wurde. Er erwartete schon, dass sie ihrem Vater erzählte, was sie fast die ganze Nacht im Gästezimmer getrieben hatten.
»Ich habe Schwierigkeiten mit Mathe. Carl ist ein Magier. Ich glaube, ich verstehe den Stoff jetzt.«
»Gut«, erwiderte ihr Vater. »Ich gehe duschen. Bis später.«
»Also, was hältst du von dem General?« wollte Vanessa wissen, als ihr Vater außer Hörweite war.
»Für jemanden in seinem Alter ist er ziemlich gut in Form«, erwiderte Carl ausweichend.
Vanessa lachte. »Keine Sorge. Ich reiße dir nicht den Kopf ab, wenn du etwas Nettes über ihn sagst. Er hinterlässt einen großartigen ersten Eindruck, vor allem bei Männern. Diese stahlgrauen Augen, das entschlossene Kinn und die militärische Haltung. Er ist ein richtiger Kerl, und ihr Jungs mögt so etwas.«
»Ich habe Karate geübt. Wir haben über alles Mögliche geredet und sind zusammen gejoggt. Er hat mich gefragt, wo ich lebe und sich nach der Schule erkundigt.«
Vanessa beugte sich vor und nahm Carls Kinn zwischen ihre Finger. Die Berührung elektrisierte ihn.
»Du bist rot wie eine Möhre, und ich wette, ich weiß genau, was du denkst.« Carls Röte vertiefte sich. »Warum gehst du nicht nach oben und duschst? Ich seife dir den Rücken ein.«
»Während dein Vater im Haus ist?« fragte Carl nervös
»Gerade weil mein Vater da ist«, antwortete sie und starrte boshaft ins Innere ihres Hauses.
Als sie aufstand, bog ein Mann um die Ecke. Es war nicht derselbe, den Carl auf dem Rand der Klippe hatte patrouillieren sehen. Diesmal bestand aber kein Zweifel daran, dass der Mann bewaffnet war.
»Mach dir über die keine Gedanken«, sagte Vanessa, als sie bemerkte, wie Carl den Mann anstarrte. »Mein Vater reist immer mit einer Leibwache. Er ist eine wichtige Persönlichkeit. Selbst Enrique ist ein Ex-Militär, aus irgendeinem südamerikanischen Land, mit dem mein Vater zu tun hatte. Vermutlich war er bei einem Todesschwadron, das mein Vater ausgebildet hat.« Carl wusste nicht, ob sie das scherzhaft meinte. »Er selbst ist auch immer bewaffnet.«
Carl runzelte die Stirn. Dass bewaffnete Männer dieses Grundstück bewachten, behagte ihm nicht. Denn das bedeutete, dass es einen triftigen Grund gab, warum sie hier waren. Doch als Vanessa seine Hand nahm, dachte Carl nicht mehr an Wachen.
Der General ging kurz nach dem Frühstück. Während er unterwegs war, verbrachten Carl und Vanessa die Zeit damit, miteinander zu schlafen oder sich träge am Strand zu erholen.
Wingate kam am frühen Abend zum Essen zurück. Er versuchte, eine normale Unterhaltung zu führen, aber seine Tochter antwortete auf jede direkte Frage gereizt und schwieg mürrisch, wenn Carl und ihr Vater miteinander redeten. Carl fühlte sich äußerst unbehaglich und war heilfroh, als das Dinner endlich zu Ende war.
Die beiden gingen ins Kino, weil der General Gäste erwartete. Die Besucher waren verschwunden, als sie nach Mitternacht zurückkehrten. Vanessa verbrachte die Nacht in Carls Zimmer, was ihn sehr nervös machte. Er stellte sich vor, wie der General die Tür zum Gästezimmer aufriss und ihn im Bett ermordete
Aber es gab keine nächtlichen Überfälle, und Morris Wingate war verschwunden, als sie am Sonntagmorgen aufwachten.
Carl war vollkommen erschöpft, nachdem Vanessa ihn am Abend an seiner Wohnung abgesetzt hatte. Er ging sofort ins Bett und verschlief am nächsten Morgen. Aus diesem Grund kam er zum ersten Mal zu spät zum Unterricht, seit er in St. Martins angefangen hatte. Carl hoffte, dass er nicht zufällig Sandy Rhodes oder Mike Manchester begegnete. Er hatte Glück. Er sah sie nur einmal aus der Ferne im Korridor. Später erzählte Vanessa ihm, dass die Jungs allen, die sie nach ihren Verletzungen fragten, weisgemacht hatten, die Kampf spuren stammten von einer erfolgreichen Prügelei mit einer Rockerbande hinter einer Bar.
Das erste Semester von Carls Abschlussjahr zog wie im Nebel an ihm vorüber. Er wollte zwar so viel Zeit wie möglich mit Vanessa verbringen, erklärte ihr aber, dass er seinen Notenschnitt halten musste, wenn er eine Chance auf ein Stipendium haben wollte. Das verstand sie. Sie störte nie seine Studien. Wenn sie nach dem Unterricht an den Strand gingen, brachte Vanessa ihn gegen neunzehn Uhr nach Hause. Verbrachte er das Wochenende in Vanessas Haus, bestand sie darauf, dass er seine Bücher mitbrachte.
Zuerst fürchtete Carl die Wochenenden bei den Wingates, wenn der General anwesend war. Zwischen Morris Wingate und seiner Tochter herrschte eine unangenehme Spannung, doch schon bald freute er sich, wenn Wingate auftauchte. Der General war charmant und intelligent, besaß ein umfassendes Allgemeinwissen und schien schon überall auf der Welt gewesen zu sein. Carl fühlte sich schuldig, weil er Vanessas Hass auf ihren Vater nicht teilen konnte. Er hütete sich jedoch, das Vanessa gegenüber zu erwähnen. Es war ihr sicher längst aufgefallen, dass Carl und ihr Vater sich gut verstanden, aber sie verlor Carl gegenüber darüber kein Wort.
Manchmal joggten Carl und der General zusammen am Strand. Eines Tages jedoch schlug Wingate einen Karatekampf vor. Er konnte Carl zwar nicht das Wasser reichen, hielt sich jedoch keineswegs schlecht. Als Carl später darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass ihn das nicht hätte wundern sollen. Wingate war ein Militär, und Soldaten lebten vom Kampf. Meistens übernahm Carl die Rolle des Verteidigers und begnügte sich damit, Wingates Schläge und Tritte zu blockieren und gelegentlich selbst einen leichten Schlag zu landen. Carl war überzeugt, dass der General wusste, dass er sich zurückhielt.
Zwei Nächte nach ihrem Übungskampf klingelte das Telefon in Carls Wohnung. Er nahm den Anruf in seinem Zimmer entgegen und hoffte, dass es Vanessa war. Der Anrufer war Morris Wingate. Der General hatte ihn noch nie angerufen, und Carl fürchtete sofort, Vanessa könnte etwas passiert sein.
»Schön, dass ich Sie erwischt habe«, sagte Wingate. »Ich bin zur Zeit noch in Washington, aber ich komme Donnerstagabend nach Kalifornien zurück. Haben Sie da schon etwas vor?«
Carl hatte nichts vor. Vanessa und er hatten Klausuren vor sich. Sie hatten vereinbart, in der Woche zu lernen und sich nicht zu treffen.
»Gut«, meinte Wingate, als Carl seine Frage verneinte.
»Ich habe am Donnerstag eine Überraschung für Sie geplant. Ich schicke Ihnen gegen neunzehn Uhr einen Wagen. Sagen Sie nur Vanessa nichts davon!«
Der General legte auf, bevor Carl ihm eine Frage stellen konnte. Ihm wäre es lieber gewesen, der General hätte ihn nicht gebeten, die Verabredung vor Vanessa geheim zu halten. Falls er sich daran hielt und sie es dennoch herausfand? Wenn man jemanden liebte und Carl glaubte, dass er in Vanessa verliebt war, sollte man keine Geheimnisse voreinander haben. Allerdings wusste Carl nicht, warum er Vanessa nichts davon erzählen sollte. Wenn der General nun seiner Tochter eine Überraschung bieten wollte und Carl eine Rolle dabei spielen sollte? Er würde alles ruinieren, wenn er es ihr verriet.
Carl beschloss abzuwarten, was der General vorhatte. Er konnte Vanessa hinterher immer noch davon erzählen.
Genau um neunzehn Uhr hielt eine schwarze Limousine vor Carls Wohnblock. In dieser Gegend sah man Limousinen mit Chauffeur nur ziemlich selten, so dass sie einige Gaffer anzog.
»Wohin gehst du?« wollte Evelyn Rice von ihrem Sohn wissen.
»Ich weiß nicht, Mom. Ich habe dir ja schon gesagt, dass der General eine Überraschung plant.«
»Und warum kommt deine Freundin nicht mit?«
»Das weiß ich auch nicht.« Carl zog sein Jackett an und küsste seine Mutter auf die Wange. »Ich muss los.«
Evelyn schlang ihre Arme um sich, um ihre Gefühle zu kontrollieren, als Carl die Wohnungstür hinter sich schloss. Ihr Sohn hatte wenig über das Mädchen erzählt, mit dem er ausging. Evelyn wusste nur, dass Vanessa sehr reich und ihre Mutter tot war. Ihr Vater lebte fast das ganze Jahr über in Washington, wo er einen Geheimdienst leitete. Es missfiel Evelyn, dass jemand sein Kind so lange unbeaufsichtigt ließ, und außerdem fand sie es seltsam, dass eine so bedeutende Persönlichkeit wie General Wingate mit ihrem Sohn ausging, ohne seine Tochter mitzunehmen. Aber Carl war in letzter Zeit so glücklich gewesen, dass sie ihre Vorahnungen lieber für sich behielt.
Einige der Nachbarkinder machten anzügliche Bemerkungen, als der Chauffeur Carl die Tür öffnete. Befangen nahm er neben dem General auf den Rücksitz Platz. Auf dem Beifahrersitz saß ein bewaffneter Leibwächter. Er und der Fahrer hatten lange Haare und trugen Zivilkleidung. Wingate trug ein schwarzes Hemd und eine dunkle Hose
»Wie laufen Ihre Prüfungen?« erkundigte sich der General, als sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte.
»Ganz gut. Ich habe diese Woche zwei Klausuren geschrieben und habe nächste Woche noch drei vor mir.«
»Vanessa glaubt, dass sie bei ihrem Mathematiktest gut abgeschnitten hat. Das Verdienst dafür schreibt sie Ihnen zu.«
Carl errötete. »Sie hätte es auch ohne mich geschafft.«
»Meine Tochter hat mir auch erzählt, wie Sie sie vor Sandy Rhodes beschützt haben.« Carl wandte verlegen den Blick ab. »Das war mutig. Ich kenne Sandy und seinen Freund. Sie sind beide erheblich größer als Sie.«
»Ich habe Sandy überrumpelt, und außerdem wussten die beiden nicht, wie man kämpft«, murmelte Carl.
Der General musterte Carl einen Moment, bevor er antwortete. »Bescheidenheit ist ein edler Charakterzug, Carl, aber Sie sollten es damit nicht übertreiben. Jemanden bei einem Kampf überrumpeln zu können ist eine bewundernswerte Fähigkeit. Nur im Fernsehen geht es fair zu. Ein Kampf ist kein Spiel. Auf jeden Fall stehe ich in Ihrer Schuld, weil Sie Vanessa beschützt haben.«
Carl wusste nicht, was er sagen sollte, also hielt er einfach den Mund. Der General ließ das Thema fallen, und sie fuhren schweigend weiter, bis der Wagen vom Highway abbog und nach Osten in die ländlichen Gebiete fuhr.
»Ich bin sicher, Sie werden den heutigen Abend interessant finden.«
»Wohin fahren wir?«
»Zu einer Sportveranstaltung«, antwortete Wingate mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Ihre Auseinandersetzung mit Sandy und seinem Freund war nicht Ihr erster richtiger Kampf, habe ich recht?« »Ja«, antwortete Carl argwöhnisch. Er wusste nicht, worauf Wingate hinauswollte.
»Sind Sie eigentlich jemals den Marodeuren beigetreten?«
Die Frage überrumpelte Carl. »Ich weiß, dass Sie bei einigen ihrer Bandenkämpfe mitgemacht haben, aber es ist nicht klar ersichtlich, wie weit Ihre Beteiligung geht.«
»Woher wissen Sie ... ?«
Wingate lächelte. »Ich bin Chef eines Geheimdienstes, Carl. Wie gut wäre dieser Geheimdienst wohl, wenn er nicht einmal die Vergangenheit des Freundes meiner Tochter untersuchen könnte?«
Carl errötete. »Ich finde das nicht richtig, Sir.«
»Meine Tochter hasst mich. Sie macht mich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich und versucht alles, um mir weh zu tun. Gelegentlich lässt sie sich sogar mit Jungs ein, die wirklich schlecht für sie sind. Sie geht nur mit ihnen aus, um mich zu verletzen. Ich liebe Vanessa sehr und muss sie manchmal vor sich selbst beschützen. Das bedeutet: Ich muss alles, was ich kann, über ihre Freunde in Erfahrung bringen, und mich gelegentlich auch der Jungen annehmen, die ein Problem darstellen könnten.«
Der General sah Carls besorgten Blick und lächelte herzlich. »Sie sind nicht schlecht für Sie, Carl. Im Gegenteil, ich bin sogar sehr erleichtert, dass Sie endlich jemanden wie Sie gefunden hat, jemanden mit Charakter.«
Carl fühlte, wie ihm eine Last von den Schultern fiel.
»Trotzdem muss ich diese Sache mit den Marodeuren wissen«, fuhr der General beharrlich fort.
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Ein paar Freunde aus meiner alten Schule sind in einer Bande. Ich bin nicht dabei. Als ich meinen schwarzen Gürtel bekommen habe, wollte ich herausfinden, wie ich mich außerhalb eines Dojos halten würde, Sie wissen schon, auf der Straße, wo es keine Regeln gibt. Ich war an einem Kampf beteiligt, und die Polizei hat mich festgenommen. Sie konnten aber nichts beweisen, also haben sie mich wieder laufenlassen. Es gab nicht einmal eine Anzeige, aber diese Verhaftung hat mich wachgerüttelt. Ich habe meinen Freunden gesagt, dass ich nicht bei ihnen mitmachen würde. Wir sind immer noch befreundet.«
»Wie haben Sie sich bei dem Kampf ohne Regeln gehalten?«
Carl sah dem General in die Augen. »Ausgezeichnet.«
Wingate lächelte und ließ das Thema fallen. Im Osten versanken die Hügel allmählich in der Dunkelheit, und am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Limousine bog auf einen Feldweg ein und fuhr durch eine Obstplantage. Carl sah in der Ferne ein Licht zwischen den Bäumen funkeln. Kurz darauf erreichten sie eine große Scheune und parkten neben einer Limousine. Es standen noch mehr teure Wagen in der Nähe. Als der Fahrer die Tür öffnete, hörte Carl Geräusche aus der Scheune. Der Leibwächter des Generals war vorausgegangen und klopfte an eine Tür. Sie öffnete sich ein Stück, und ein fetter Mann mit einer Zigarre steckte den Kopf heraus. Wingates Leibwächter drückte dem Mann ein Bündel Banknoten in die Hand und sagte etwas zu ihm, was Carl nicht verstand. Der Fette schob das Geld in seine Tasche und grinste.
»General, es ist mir ein Vergnügen.«
»Das klingt ganz so, als hätten Sie einige interessante Wettkämpfe organisiert.«
»Sie werden sich amüsieren«, versicherte der Mann Wingate, während er zur Seite trat und Carl, den General und dessen Leibwächter in die Scheune ließ.
Scheinwerfer beleuchteten ein rechteckiges Sandfeld in der Mitte der Scheune. Der größte Teil des Inneren blieb im Dunkeln. Dichte Schwaden Zigarren- und Zigarettenqualm zogen durch das Gebäude, und die Leute auf den Klappsitzen um die Sandfläche herum unterhielten sich angeregt. Es war eine seltsame Mischung aus Männern und Frauen. Einige hatten sich in Abendgarderobe geworfen, andere waren eher lässig gekleidet. Einige Männer trugen Cowboystiefel, karierte Flanellhemden und Jeans, und einige wenige sahen sogar aus, als kämen sie geradewegs aus einem Casino in Las Vegas.
Am anderen Ende der Scheune stand eine Bar, an der Männer Geld zu wechseln schienen. Wingate führte Carl zu einigen Stühlen in der ersten Reihe, die für sie reserviert waren. Der Fahrer und der Leibwächter standen hinter den letzten Stuhlreihen, wo sie alles im Auge behalten konnten.
»Was findet hier statt, Sir?« fragte Carl.
»Der Mann, der uns hereingelassen hat, heißt Vincent Rodino. Er organisiert etwas ungewöhnliche Sportereignisse. Ich habe von diesem hier erst vor einigen Tagen erfahren und dachte, es würde Sie interessieren.«
Carl wollte noch eine Frage stellen, als die Lichter gedimmt wurden und Rodino in die Mitte der rechteckigen Sandarena trat, die von den Sitzen umringt wurde. Zwei andere Männer betraten das Rechteck aus entgegengesetzten Richtungen. Der eine war untersetzt, ein dichter, schwarzer Haarpelz bedeckte seine muskulöse Brust. Er hatte kurze, stämmige Beine und Arme. Seine Brauen waren von Narben übersät, und seine Nase war mehr als einmal gebrochen. Er trug eine Boxerhose und Boxerschuhe, aber keine Handschuhe.
Den anderen Mann kannte Carl von einem Karatewettbewerb. Er war groß, schlank, hatte bloße Hände und trug nur die schwarze Hose seines Karatekämpfers.
»Fangen wir an, Leute«, rief Rodino. Er wartete, bis die letzten ihre Plätze gefunden und sich gesetzt hatten. Die Kämpfer lockerten indes ihre Muskeln und boxten in die Luft.
»Heute haben wir eine aufregende Paarung«, fuhr Rodino fort, als es leiser geworden war. Er hob den Arm und deutete auf den Boxer. »Das ist Harold McMurray. Er rangiert auf dem sechsten Rang der California State Boxing Commission im Schwergewicht. Seine Kampfbilanz weist dreizehn Siege, zwei Niederlagen und sechs K. O.-Siege auf.«
Rodino drehte sich zu dem anderen Kämpfer um. »Dort haben wir Mark Torrance, seit zwei Jahren Karate-Champion der Westküste.«
Die Leute applaudierten, und Rodino winkte die Kontrahenten in die Mitte der Arena.
»Ihr kennt die Regeln, Jungs.« Rodino legte eine effektvolle Pause ein. »Es gibt keine.« Einige Zuschauer lachten. »Der Sieger bekommt alles, und es gibt keine Beschränkungen. Ihr kämpft, bis einer am Boden liegen bleibt oder aufgibt. Ihr könnt beißen, kneifen und ringen. Alles, bis auf Waffen. Alles klar?«
Die Männer nickten. Wingate drehte sich zu Carl herum.
»Glauben Sie, dass ein Karateka einen professionellen Boxer besiegen kann?«
»Das kommt auf die Kämpfer an.«
Rodino verließ die Arena, und die beiden Männer umkreisten sich wachsam. Der Boxer setzte beim Gehen die Füße flach auf, ging langsam vor und täuschte mit Kopf und Schultern Schläge an. Torrance dagegen tänzelte leicht auf seinen Fußballen.
Die Menge war angeheizt, schrie Ermunterungen und wartete auf den ersten Schlag.
McMurray versuchte, sich seinem Gegner zu nähern, aber Torrance setzte seine größere Reichweite und Schnelligkeit ein, er blieb außerhalb der Reichweite seines Gegners und reizte den kleineren Mann mit schnellen, trockenen Schlägen, die rote Flecken auf dem Gesicht des Boxers hinterließen. Frustriert griff McMurray an. Der Schwarzgürtel trat geschickt zur Seite und wischte dem Boxer die Füße unter dem Körper weg. McMurray griff instinktiv nach einem Halt, als er zu Boden ging, und entblößte damit die Deckung seines Kopfes. Torrance nutzte die Lücke und erwischte den Boxer mit einem Tritt ins Gesicht. Blut floss aus einer Wunde an der Wange des Boxers. Die Menge grölte erregt auf. McMurray fiel in den Sand und rollte sich hastig von dem Karateka weg. Torrance hatte es anscheinend nicht eilig. Der Boxer rappelte sich auf.
»Was halten Sie von ihm?« fragte Wingate, ohne die Kämpfer aus den Augen zu lassen.
»Der Tritt war sehr gut angesetzt«, antwortete Carl ruhig. Er beobachtete mit seinem erfahrenen Blick die Männer.
Torrance landete noch einige Treffer und wurde überheblich. Er fing an, seinen Gegner zu verhöhnen, aber der Boxer war ein erfahrener Kämpfer und ließ sich nicht so leicht provozieren. Außerdem war er gut in Form und ließ sich trotz der Schläge, die er hatte einstecken müssen, keine Schwäche anmerken.
Torrance schlug wieder zu. Der Boxer umging den Schlag, machte einen Ausfallschritt und rammte dem Schwarzgurt eine harte Rechte in die Rippen. Torrance zuckte zusammen, und McMurray setzte mit einem linken Schwinger nach, der Torrances Hals streifte. Torrance klammerte und umschlang die mächtigen Schultern des Boxers mit den Armen. McMurray versuchte, Torrance das Knie in die Lenden zu rammen. In dem Moment, in dem er das Bein hob, verlagerte Torrance sein Gewicht. Der Judowurf war perfekt angesetzt, und McMurray lag auf dem Rücken, bevor er wusste, wie ihm geschah. Torrance hämmerte McMurray seine Hand in die Lenden und setzte den Boxer damit außer Gefecht. Rodino trat wieder in die Arena und hob die Hand des Siegers. Torrance tanzte durch den Ring, die Hände triumphierend erhoben, während McMurray sich noch am Boden wand.
Wingate stand auf. »Schnappen wir vor dem nächsten Kampf ein wenig frische Luft.« Carl folgte dem General zu einer Tür am Ende der Scheune. Als sie an Wingates Fahrer vorbeigingen, befahl der General ihm, eine Wette auf den nächsten Kampf zu platzieren.
Vor der Tür hatten sich einige Leute versammelt. Wingate führte Carl zu einer kleinen Baumgruppe. Die kühle Nachtluft war nach dem rauchgeschwängerten Qualm in der Scheune wohltuend.
»Was halten Sie von dem Kampf?« wollte Wingate wissen.
»Torrance ist gut, aber der Boxer war auch ein gefundenes Fressen für ihn. Er war zu langsam und offensichtlich nicht gewöhnt, gegen jemanden zu kämpfen, der ringt und tritt.«
»Wie würden Sie Ihrer Meinung nach gegen Torrance abschneiden?«
Etwas in Wingates Ton ließ Carl mit einer Antwort zögern. »Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie, sagen wir, heute Nacht gegen ihn kämpfen müssten. Glauben Sie, Sie könnten ihn schaffen?«
»Sie wollen, dass ich gegen ihn kämpfe?«
»Ich glaube, das wäre ein sehr interessanter Kampf.«
»Heute Nacht?« Carl betrachtete Wingates Miene. Was steckte hinter der Frage des Generals? Die markanten Gesichtszüge des älteren Mannes lagen im Schatten.
»Nicht heute Nacht«, antwortete der General mit einem Lachen, als sein Fahrer zu ihnen trat und sagte, dass der nächste Kampf anfing.
»Das dürfte ein guter Kampf werden«, meinte Wingate. Er kehrte seinem Gast den Rücken zu und ging zur Scheune zurück. Carl war vollkommen durcheinander. Was führte Wingate im Schilde? Carl hatte schon häufiger vermutet, dass der General etwas von ihm wollte, aber er hatte keine Ahnung, was es war
Es fiel ihm schwer, sich auf die folgenden Kämpfe zu konzentrieren. Wollte der General wirklich, dass er gegen Torrance kämpfte, oder war Wingate nur neugierig auf Carls Meinung? Während einer Pause schlenderte Carl herum. Er schaute zur Bar, wo ein Mann die Gewinner auszahlte. In einer dunklen Ecke dahinter redete Wingate mit Rodino.
Der General war so mächtig, so selbstsicher. Was hätte Carl darum gegeben, einen solchen Vater zu haben, einen Freund, mehr als einen Freund. Der General wusste so viel über viele Dinge. Carl liebte seine Mutter. Sie arbeitete schwer für ihn, aber er sehnte sich nach mehr. Er vermisste einen Vater, einen Mann, der ihn beraten und anleiten konnte.
Carl wusste, dass Vanessa das Schlimmste von ihrem Vater dachte, aber er war davon überzeugt, dass sie sich irrte. In der kurzen Zeit, die er Morris Wingate kannte, hatte der General nie auch nur ein böses Wort über Vanessa verloren. Carl war sicher, dass ihr Vater sie liebte und ihr die schreckliche Meinung verzieh, die sie von ihm hatte. Carl war überzeugt, dass Wingate mit allen Kräften versuchte, ein guter Vater zu sein, trotz Vanessas Versuchen, ihn von sich zu stoßen. Aber er konnte mit ihr nicht über seine Gefühle reden. Wäre er in diesem Punkt ehrlich, würde das seine Beziehung zu Vanessa zerstören. Und die Tochter des Generals war der wichtigste Mensch in Carls Leben. Er wünschte sich sehnlichst, Vanessa und ihr Vater würden Frieden schließen. Und noch stärker wünschte er sich, dass Morris Wingate nicht nur Vanessas Freund ihn ihm sah, sondern einen Sohn.
Zwei Tage nach dem Ausflug mit dem General bezahlte Carl für einen Monat Unterricht in Mark Torrances Dojo. Torrance leitete das Dojo eines nationalen Franchiseunternehmens, International Karate. Das Stammhaus der Firma befand sich in Chicago. Die Schule lag in einem Ghetto im ersten Stock eines alten Holzhauses. Die meisten Schüler waren Schwarze oder Hispanos, doch es besuchten auch einige Weiße das Dojo, vor allem wegen Torrances Ruf. Carl schrieb sich unter einem falschen Namen ein und gab sich als Anfänger mit Vorkenntnissen aus. Er nutzte jede Möglichkeit, Torrances Kampfstil zu studieren, und kam zu dem Schluss, dass der Mann ein guter Kämpfer war. Er hatte allerdings auch einige Schwächen, die jedoch nur jemandem mit Carls Auge auffielen.
Torrance letzte Klasse endete wochentags um zweiundzwanzig Uhr. Manchmal ging der Sensei mit einigen seiner Studenten auf ein Bier aus, aber niemals mittwochs, weil er dann seine Buchführung erledigte. An einem Mittwochabend hatte sich Carl ganz in Schwarz gekleidet. So konnte er sich besser in der Gasse gegenüber dem Dojo verstecken. Zwanzig Minuten, nachdem der letzte Schüler die außen liegende Holztreppe vom ersten Stock hinuntergekommen war, streifte sich Carl eine schwarze Skimaske über, lief rasch über die Straße und die Treppe hinauf. Er hatte einen trockenen Mund, und sein Herz hämmerte heftig, als er auf dem Treppenabsatz stehenblieb. Er wusste, wie verrückt das war, was er tat. Er war ein Junge, und Torrance war ein erfahrener Kämpfer. Noch konnte er aufhören! Schließlich war er nicht einmal sicher, ob Wingate wirklich wollte, dass er gegen Torrance kämpfte. Der General hatte das Thema später nicht mehr angesprochen. Und wenn es doch ein Test war? Wenn der General sehen wollte, was Carl daraus machte? Die Furcht brannte in ihm, und beinahe wäre er umgekehrt, aber der Wunsch, General Wingate zu gefallen, war stärker und zwang ihn förmlich dazu, den Türgriff zu packen und die Tür zu öffnen.
Das Dojo war ein großer Raum mit einem Boden aus Hartholz. In einer Ecke lagen Aufwärmmatten, und an der Wand hingen Punchingbälle in verschiedenen Größen. Neben den Umkleideräumen verkleideten deckenhohe Spiegel eine Wand. Das kleine Büro, in dem Torrance arbeitete, befand sich auf der anderen Seite des Raums gegenüber dem Haupteingang. Es war dunkel, nur im Büro brannte noch Licht. Carl sah, dass Torrance an seinem Schreibtisch saß.
Lautlos schlich er zur anderen Seite, drückte sich an der Wand entlang und hielt sich sorgsam im Schatten. Als er seine Position erreichte, sah er, wie Torrance Eintragungen in ein Kassenbuch vornahm. Torrance war vollkommen auf seine Tätigkeit konzentriert und bot ein leichtes Ziel. Carl erinnerte sich an die Worte des Generals, der gesagt hatte, das Überraschungsmoment in einem Kampf sei bewundernswert und faire Kämpfe gebe es nur im Fernsehen. Aber er wollte einen echten Test seines Könnens.
Carl hatte bereits mehrere echte Kämpfe absolviert, allerdings bisher fast nur gegen Jungen wie Sandy Rhodes und Mike Manchester, die keine Ausbildung hatten. Torrance würde nicht einfach aufgeben, und er war auch gewohnt, bei Schmerzen weiterzukämpfen. Carl überlegte, ob er einen Fehler machte. War er dem anderen unterlegen? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Sein Blick fiel auf einen Ständer mit Hanteln in der Nähe der Spiegelwand. Er beschloss, Torrance in den offenen Bereich des Dojo zu locken. Er nahm eine schwere Hantel vom obersten Haken des Ständers und ließ sie fallen. Das Metall prallte mit einem vernehmlichen Knall auf den Boden, der in der Stille noch lauter wirkte. Torrance sprang sofort auf und starrte in die Dunkelheit.
»Wer ist da?«
Der Schwarzgurt ging zu seiner Bürotür und schaute sich in dem Dojo um. Carl wich in den Schatten zurück. Wenn Torrance in den Raum trat, würde er ihn angreifen. Torrance verließ das Büro jedoch nicht, sondern trat hinter seinen Schreibtisch und bückte sich. Als er sich wieder umdrehte, hielt er eine Pistole in der Hand
Plötzlich begriff Carl, dass er kein moderner Samurai auf einer Mission für seinen Meister war. Er war nur ein Narr, der gerade im Begriff war, eine Riesendummheit zu begehen, ein Teenager, der seine Phantasien auslebte. General Wingate hatte keine Prüfung vorgeschlagen, als er Carl fragte, wie er in einem Kampf gegen Torrance wohl abschneiden würde, sondern nur unverbindlich geplaudert. Bedauerlicherweise kam Carl diese Erleuchtung ein wenig spät. Falls Torrance ihn erwischte, wie er als Ninja verkleidet in seinem Dojo herumschlich, würde er die Polizei rufen. Carl würde von St. Martins geworfen werden. Ihm war klar, dass er nur eine Chance hatte, ungeschoren aus dieser lächerlichen Situation herauszukommen, in die er sich manövriert hatte.
Während Torrance darauf wartete, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, schlüpfte Carl in den Umkleideraum. Eine Sekunde, nachdem die Tür zurückgeschwungen war, knipste Torrance das Licht im Dojo an. Carl öffnete die Tür einen Spalt und beobachtete, wie Torrance zu dem Ständer mit den Gewichten ging. Der Sensei kniete sich hin und untersuchte die Hantel, die Carl fallen gelassen hatte. Dann betrachtete er den Ständer. Er hob das Gewicht auf und legte es auf die Haken zurück. Carl hörte das metallische Geräusch, als Torrance überprüfte, ob die Hantel möglicherweise von allein heruntergefallen sein könnte. Als er zu dem Schluss kam, dass dies unmöglich war, trat Torrance in die Mitte des Dojo und drehte sich mit der Waffe im Anschlag herum. Sein Blick glitt über die Tür des Umkleideraumes hinweg und zuckte dann zu ihr zurück. Der Schwarzgurt zögerte eine Sekunde und steuerte dann darauf zu.
Der Umkleideraum war lang und schmal. Spinde säumten alle vier Wände. Eine Reihe von Spinden stand mitten im Raum. An dem Ende, das am weitesten von der Tür entfernt war, befanden sich in einem offenen, gefliesten Bereich die Duschen. Der Raum bot nur wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Carl konnte um die Spinde herumlaufen, aber wie lange würde er das durchhalten? Ein Teil der Duschen bot Sichtschutz vor jemanden, der in der Nähe der Tür stand, aber sobald Torrance in die Dusche schaute, würde er Carl sehen. Auf Distanz hatte Carl keine Chance gegen einen Mann mit einer Pistole.
Plötzlich flammten die Lichter im Umkleideraum auf. Carl blieben nur Sekunden, um zu reagieren. Die Tür der Umkleidekabine schwang auf. Torrance kam herein und blieb neben dem Eingang stehen. Vom Ende der Spinde in der Mitte des Raumes konnte er bis auf die Dusche alles überblicken.
»Komm raus, dann passiert niemandem etwas! Ich habe eine Waffe bei mir.«
Torrance klang gelassen. Carl dagegen musste sich zur Ruhe zwingen.
»Ich zähle bis drei. Wenn du nicht rauskommst, schieße ich.«
Carl überlegte, ob er sich ergeben sollte. Vielleicht konnte er Torrance ja überzeugen, dass er gekommen war, um noch etwas zu trainieren. Dann fiel ihm ein, dass er ganz in Schwarz gekleidet war, eine Skimaske trug und nicht ins Büro gegangen war, um Torrance um Erlaubnis zu bitten. Torrance würde ihn zweifellos der Polizei übergeben oder ihn einfach erschießen.
Torrance zählte laut bis drei. »Okay, Kumpel. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Der Karatelehrer ging an den Spinden vorbei zur Dusche. Es war der einzige Teil der Umkleidekabine, den er nicht ganz einsehen konnte. Er hatte einen Gutteil seines Weges zurückgelegt, als Carl auf ihn sprang. Er hatte sich in dem schmalen Spalt auf den Spinden in der Mitte des Umkleideraumes und der niedrigen Decke verborgen. Torrance stolperte nach vorn und ließ die Waffe fallen. Der Raum zwischen den Spinden war zu eng, als dass er rasch hätte herumfahren können. Carl zwang den Karatelehrer mit einem Schlag von hinten in die Knie und setzte einen Würgegriff an. Torrance tastete verzweifelt nach seiner Waffe, bis er ohnmächtig wurde